Pessach ohne Freiheit: Wenn Erinnerung zur Warnung wird (Ilan Mor)

In diesem Jahr wirkt Pessach wie ein stiller Mahnruf: Die Erinnerung an Befreiung trifft auf eine Realität, in der demokratische Prinzipien ins Wanken geraten. Die Erosion von Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt lässt die Idee eines solidarischen Miteinanders verblassen.
Der Duft des ungesäuerten Brotes liegt in der Luft. In den Häusern werden Fragen gestellt, uralt und doch immer neu: „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“ Und doch klingt die Antwort in diesem Jahr hohl. Denn während Israel das Fest der Befreiung begeht, spüren viele, dass etwas Essenzielles ins Wanken geraten ist. Pessach, Symbol des Triumphs über Unterdrückung, wird zum Spiegelbild einer Gegenwart, in der Freiheit keine gelebte Realität, sondern nur noch eine Erinnerung zu sein scheint.
Pessach ohne Freiheit: Wenn Erinnerung zur Warnung wird
Botschafter a.D. Ilan Mor
Wie spricht man von Freiheit, wenn die Grundpfeiler, auf denen sie ruht, zu bröckeln beginnen? Wenn nicht der Auszug aus Ägypten, sondern der Rückzug aus demokratischer Verantwortung das prägende Narrativ der Stunde ist?
An Israels Spitze steht ein Premierminister, dessen juristische Verstrickungen längst zur nationalen Belastung geworden sind. Die Trennung zwischen privaten Interessen und staatlicher Verantwortung verschwimmt. Mit jedem Angriff auf die Justiz, mit jeder Aushöhlung der Gewaltenteilung formt sich das Bild eines Systems, das nicht mehr dem Volk dient, sondern seinem eigenen Machterhalt. Was andernorts als Markenzeichen autoritärer Regime gilt, ist nun Teil israelischer Realität.
Seit dem 7. Oktober 2023, jenem dunklen Tag, an dem die Hamas Tod und Terror über Israel brachte, ist das Land in kollektive Erstarrung gefallen. Der Schmerz ist tief, der Ruf nach Gerechtigkeit unüberhörbar. Und doch ist da mehr: Entsetzen über das eigene Versagen. Über die Geiseln, die noch immer in der Finsternis der Tunnel gefangen sind. Über politische Akteure, die – mitten im Krieg – unter dem Verdacht stehen, geheime Kontakte zur katarischen Regierung gepflegt zu haben, ausgerechnet zu jenem Land, das als Schutzpatron der Hamas gilt.
Zur gleichen Zeit leisten einige – aus religiöser Überzeugung – dem Staat den Wehrdienst ab, andere verweigern ihn bewusst mit dem provokanten Motto: „Wir sterben lieber, als uns einziehen zu lassen.“ Es ist ein Riss, der durch die Gesellschaft geht. Kein bloßer Streit, sondern eine Erosion des gemeinsamen Ethos. Die Idee eines solidarischen „Wir“, das Israel einst durch Kriege und Krisen getragen hat, beginnt zu zerfallen.
Der Oberste Gerichtshof, einst Leuchtturm für Gerechtigkeit, steht im Fadenkreuz der Regierung. Seine Unabhängigkeit wird systematisch demontiert. Was bleibt, ist eine gefährliche Entgrenzung: Die Exekutive greift nach mehr Macht, das Parlament wird entmachtet, die Justiz untergraben. Parallel dazu läuft eine perfide Maschinerie der Spaltung – orchestriert aus dem engsten Umfeld des Premierministers. Mit Worten wird gehetzt, mit Mythen vergiftet, mit Angst regiert. Wer sich widersetzt, wird zum Feind erklärt, zur Bedrohung – und nicht selten zum Verräter gestempelt.
Doch die Bevölkerung sieht klarer, als es der Regierung lieb sein kann. Das Vertrauen ist erschüttert, die Geduld erschöpft. Die Rückkehr der Geiseln ist für die große Mehrheit keine Option mehr, sondern Pflicht. Und mit ihr wächst die Forderung nach Aufklärung, nach Rechenschaft, nach Gerechtigkeit. Eine unabhängige Untersuchung des 7. Oktobers – nicht als politische Geste, sondern als moralischer Imperativ. Und mit ihr der Ruf nach Gleichheit: im Gesetz, im Dienst, in der Verantwortung. Keine Sonderrechte mehr – für niemanden.
Wenn dieser Kurs nicht gestoppt wird, könnte das nächste Pessach in einem Land begangen werden, das mit den Idealen von Freiheit und Verantwortung nur noch symbolisch verbunden ist.
Die Geschichte, die wir uns erzählen, ist nie neutral. Sie formt unsere Zukunft – oder sie warnt uns vor ihr. Zwischen Erinnerung und Realität liegt unsere Entscheidung. Ob wir handeln, wird bestimmen, ob das kommende Jahr eines der Hoffnung sein wird – oder eines resignierter Akzeptanz.
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Botschafter a.D. Ilan Mor beschäftigt sich mit geostrategischen Fragen. Er war unter anderem Gesandter in Berlin sowie Botschafter in Budapest und Zagreb.
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