In seinem aktuellen Beitrag analysiert Dr. Wolfgang Merz, wie Deutschland seine europapolitische Führung neu definieren kann. Er betont, dass geopolitische Umbrüche und wachsende Erwartungen an Berlin mehr Klarheit und strategische Führung erfordern. Merz skizziert fünf zentrale Handlungsfelder: eine europäische Verteidigungsarchitektur, flexible Fiskalpolitik, erneuerte bilaterale Beziehungen, Reformen für eine erweiterungsfähige EU und die Entwicklung eines europäischen Zukunftsbilds. Dabei geht es um die Balance zwischen nationalen Interessen und europäischer Verantwortung.

Dr. Wolfgang Merz

Lange Zeit galt Deutschland als zaudernder Riese in Europa. Doch geopolitische Umbrüche, wachsende Erwartungen der Partner und ein neues Selbstverständnis verlangen nach Klarheit – und Führung. Das Fundament für eine stärkere Rolle Deutschlands in Europa ist gelegt.

Deutsche Regierungen haben sich in der Vergangenheit oft auffallend zurückgehalten. Paradebeispiel: ein „German Vote“ in Brüssel, das gar keine Position markierte – oder Kompromisslinien, die nach innen gerichtet waren, aber nach außen keine Wirkung entfalteten. Die neue Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, die europapolitische Koordinierung stringenter zu gestalten – mit einer stärkeren Rolle des Kanzleramts als Schaltzentrale.

Fünf strategische Leitlinien zeichnen sich ab:

1. Europäische Verteidigung braucht deutsche Initiative
Lange hat sich Deutschland gegen eine Europäisierung der Verteidigung gesperrt – trotz wiederholter französischer Vorschläge. Doch die wachsende Unsicherheit über die Verlässlichkeit der USA hat ein Umdenken beschleunigt. Bereits jetzt wurden erhebliche Mittel in die nationale Verteidigung investiert. Nun braucht es europäische Strukturen: eine EU-Verteidigungsarchitektur, gemeinsame Beschaffung, bessere Koordination. Ob dies in der gesamten EU27 gelingt oder in einer „Koalition der Willigen“, bleibt offen – ebenso die Frage nach einer möglichen Kreditfinanzierung auf EU-Ebene. Nationale und europäische Instrumente müssen zusammengedacht werden.

2. Zwischen Stabilität und Investitionsdruck: Finanzpolitik neu denken
Deutschland hatte sich bei der Reform der EU-Fiskalregeln für Haushaltsdisziplin stark gemacht. Doch gestiegene Ausgaben – etwa für Verteidigung – bringen das Modell unter Druck. Eine gewisse Flexibilität ist vorgesehen: Die Defizitregeln erlauben Ausnahmen bei sicherheitsrelevanten Investitionen. Deutschland hat gemeinsam mit elf anderen Mitgliedstaaten einen Antrag auf solche Ausnahmen gestellt. Ob dies reicht, ist fraglich. Die politischen Mehrheiten für eine weitere Reform sind derzeit nicht in Sicht – insbesondere stabilitätsorientierte Länder und die Kommission sperren sich gegen eine erneute Öffnung. Die Bundesregierung muss das Thema mit Fingerspitzengefühl angehen.

3. Bilaterale Beziehungen revitalisieren – in Paris, Warschau und darüber hinaus
Die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen haben gelitten. Der Besuch des neuen Bundeskanzlers in Paris und Warschau war ein wichtiges Zeichen. Jetzt braucht es Substanz – auch durch eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks. Gleichzeitig sollte Deutschland systematisch den Dialog mit kleineren Mitgliedstaaten und Gruppen wie den „likeminded“ pflegen. Ein gegenseitiges Verständnis ist Voraussetzung für eine gemeinsame Führungsrolle in Europa.

4. EU-Erweiterung braucht Reform – und Führung
Russlands Angriffskrieg hat den Erweiterungsprozess beschleunigt – jedenfalls in Bezug auf die Ukraine und Moldau. Andere Kandidaten wie Türkei, Georgien oder Serbien bleiben hingegen problematisch. Damit die EU erweiterungsfähig wird, braucht es institutionelle Reformen. Vorschläge der Konferenz zur Zukunft Europas liegen vor, doch es fehlt an politischem Willen. Auch der bisherige deutsche Grundsatz „Erweiterung und Reform Hand in Hand“ wirkt kraftlos. Deutschland sollte ein konkretes Konzept vorlegen – und aktiv in die europäische Debatte einspeisen.

5. Europa mitgestalten: Deutschland braucht ein Zukunftsbild
Jürgen Habermas nannte Europa ein großartiges Projekt – aber ohne formuliertes Ziel. Deutschlands Dilemma war stets die Balance zwischen Zurückhaltung und Dominanz. Doch nach Jahren der Abstinenz wird Führung erwartet – auch wegen Deutschlands geopolitischer Lage und Finanzkraft. Die Voraussetzung: Die Perspektiven anderer EU-Staaten ernst nehmen, Alleingänge vermeiden, Kommission und Mitgliedstaaten frühzeitig einbinden. Deutschland sollte eigene Initiativen entwickeln, Allianzen schmieden und europäische Lösungen anstoßen.

Abschied von deutschen Sonderwegen
Wer führen will, muss bereit sein, alte Privilegien aufzugeben. Deutschland wird aufgefordert, seine Blockade bei der Liberalisierung der Freien Berufe im Binnenmarkt aufzugeben. Auch im Kapitalmarkt gilt: Wer die Investitionsunion will, muss bereit sein, nationale Interessen zu relativieren – etwa bei der Frage nach einer möglichen Übernahme der Commerzbank durch ausländische Investoren. Eine stärkere Rolle Deutschlands in Europa bedeutet also nicht nur mehr Einfluss – sondern auch mehr Verantwortung, mehr Kompromissbereitschaft und mehr Initiative.

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Der Autor Dr. Wolfgang Merz ist Berater, Dozent und Autor mit umfassender Erfahrung in nationalen, europäischen und internationalen Prozessen. Als ehemaliger leitender Mitarbeiter im Bundesministerium der Finanzen und Economist beim Internationalen Währungsfonds bietet er strategische Beratung, praxisnahe Bildung und fundierte Publikationen an. Sein Fokus liegt auf der Verbindung von Ökonomie und Politik, um Organisationen und Individuen in einer vernetzten Welt zu unterstützen.  Mehr unter: www.wolfgang-merz.de

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