Ein stiller Moment im Schutzraum: Gedanken eines Landes im Krieg (Ilan Mor)

In der neuesten Ausgabe der Reihe EAB Impulse teilt Botschafter a.D. Ilan Mor eindrückliche Gedanken aus dem Schutzraum seines Hauses in Israel. In seinem sehr persönlichen Bericht beschreibt er, wie sich die aktuelle Bedrohungslage mit Erfahrungen aus seiner Kindheit überschneidet – und welche politischen, strategischen und menschlichen Fragen sich daraus ergeben.
Ein stiller Moment im Schutzraum: Gedanken eines Landes im Krieg
Ein persönlicher Bericht aus Israel – über Sirenen, Erinnerung und die Frage, wie dieser Krieg enden kann
Botschafter a.D. Ilan Mor
Wieder eine schlaflose Nacht. Zum vierten Mal in Folge verbringen wir sie im gesicherten Schutzraum unseres Hauses – umgeben vom gespannten Schweigen zwischen den Explosionen. Die Luft ist erfüllt vom Heulen einfliegender Raketen und dem Dröhnen der Abfangsysteme. Wir leben von Sirene zu Sirene, zählen die Sekunden zwischen den Alarmen. Das ist unser neuer Alltag.
Meine Gedanken führen mich zurück in den Juni 1967. Ich war damals zwölf Jahre alt, saß mit meinen Eltern in einem ähnlichen Schutzraum – erfüllt von Angst und Ungewissheit vor den entscheidenden Tagen des Sechstagekriegs. Angesichts einer als existenziell empfundenen Bedrohung reagierte Israel damals mit einem Präventivschlag, der den Lauf der Geschichte im Nahen Osten veränderte. Der psychische Druck auf die Bevölkerung heute gleicht dem von damals. Die Heimatfront ist bis an ihre Grenzen belastet. Die Anspannung und Unsicherheit, die ich jetzt spüre, erinnern mich deutlich an jenes Kapitel unserer Geschichte.
Heute stehen wir an zwei Fronten. Der Krieg in Gaza zieht sich hin, ein Ende ist nicht absehbar. Zugleich hat sich eine zweite, gefährlichere Front mit dem Iran geöffnet.
Seit dem Tod des Hisbollah-Führers Nasrallah beschleunigt sich Irans Atomprogramm rasant. Gleichzeitig sind Tausende ballistischer Raketen auf israelische Städte gerichtet. Aus einer theoretischen Gefahr ist eine akute Bedrohung geworden. Atomwaffen in den Händen eines reaktionären Regimes wie dem der Islamischen Republik gefährden nicht nur Israel, sondern die gesamte Region.
Mit dem sprichwörtlichen Schwert an der Kehle und in Ausübung seines Rechts auf Selbstverteidigung überraschte Israel am 12.6 früh Morgens den Iran mit einer strategisch durchdachten Operation in einer verdeckten, präzisen Operation. Ziel waren jene Kräfte, die seit Jahren Angriffe auf Israel planen und das Atomprogramm vorantreiben. Es war ein Akt der Notwehr, ein letzter Ausweg. Israel hatte keine Wahl und handelte allein.
Ich frage mich: Wiederholt sich die Geschichte tatsächlich? Ist unsere nationale Realität ein ständiger Zustand zwischen Widerstandskraft und chronischer Krise?
Während wir noch unter dem Trauma des Massakers vom 7. Oktober leiden und 58 Geiseln weiterhin in Gaza festgehalten werden, bleibt der Schmerz allgegenwärtig.
Die Iranische Reaktion: Mehr als 515 Raketen und 1.150 Drohnenangriffe. 25 Tote, 2595 Verletzte, 10630 Bürger, die bei den Bombenangriffen aus dem Iran ihre Häuser verloren haben. Ganze Stadtviertel in Trümmern. In mehreren israelischen Großstädten darunter Tel Aviv, Haifa, Bat Jam, Rechovot und Ramat Gan kam es zu Angriffen auf bevölkerungsreiche Stadtgebiete. Die Ziele sind Zivilisten – Kinder, ältere Menschen, Familien. In Be’er Scheva wurde das zentrale Krankenhaus des Südens direkt getroffen. Die Schäden sind massiv und real.
Die Sirenen heulen erneut. Ich greife die Notfalltasche und gehe in den Schutzraum. Die Einschläge sind nah – einige abgefangen, andere nicht. Es ist das gleiche beklemmende Gefühl im Magen wie vor 58 Jahren. Manche Dinge ändern sich nicht.
Während ich hier sitze und das Dröhnen über mir höre, frage ich mich: Wie kommen wir hier wieder heraus – sowohl aus dem Krieg in Gaza als auch aus der Eskalation mit dem Iran – ohne uns selbst zu verlieren?
Kriege beginnen wir mit Präzision und Entschlossenheit. Aber wie beendet man sie? Dafür braucht es etwas anderes. Wie in der Strategie reicht Kraft allein nicht aus. Es braucht den entscheidenden letzten Zug – einen klaren Plan für den Ausstieg.
Jeder Krieg erreicht einen Punkt, an dem der Nutzen sinkt und die Kosten steigen. Es braucht den Übergang von Reaktion zu Strategie, vom Überleben zur Lösung. Das ist die Aufgabe der politischen und diplomatischen Führung.
Die Sirenen heulen wieder. Die Einschläge sind deutlich zu hören. Es wächst ein leiser, unausgesprochener Zweifel: Handeln wir noch aus Überzeugung – oder nur noch aus Reflex? Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Und ich frage mich laut: Sind wir in Israel dazu verdammt, ewig mit dem Schwert zu leben? Ist das unser unausweichliches Schicksal?
Dieser Krieg – und der in Gaza – wird nicht im Schutzraum beendet. Aber er muss mit der Einsicht beginnen, dass Gewalt allein nicht genügt.
Der „entscheidende Schuss“, wie im Fußball, muss politisch und diplomatisch sein: die sofortige Freilassung der Geiseln, ein Waffenstillstand, eine Deeskalation mit dem Iran – und ein echter Versuch, die tiefen innergesellschaftlichen Wunden Israels zu heilen. Ein Schritt, der aus Dynamik eine echte Lösung macht.
Bis dahin bleiben wir hier – zwischen den Sirenen, zwischen den Fronten, zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir vielleicht noch werden können.
Jetzt heulen die Sirenen wieder. Zeit, zurück in den Schutzraum zu gehen.
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Botschafter a.D. Ilan Mor beschäftigt sich mit geostrategischen Fragen. Er war unter anderem Gesandter in Berlin sowie Botschafter in Budapest und Zagreb.
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